Die Regisseurin, die nicht wegschaut

von Calle Fuhr
08.09.2022

Die gefeierte Regisseurin Karen Breece inszeniert in den Bezirken WIEN’S ANATOMY (ab 30.09. auf Bezirke-Tournee). Calle Fuhr, Künstlerischer Leiter des Volkstheaters in den Bezirken, hat sich mit ihr zum Interview über ihre Arbeitsweise getroffen und letztlich ein Gespräch über die Bedeutung des Theaters in unserer Gegenwart geführt.

 

Über einen Zeitraum von zwei Jahren hat Karen Breece dutzende Gespräche mit Patient*innen, Pflege- und Gesundheitsexpert*innen aus ganz Österreich geführt, um sich auf diese Arbeit vorzubereiten. Seit Mitte August laufen die Proben und wir treffen uns für dieses Interview an einem Donnerstagmorgen. Eigentlich wollten wir über ihre Arbeitsweise sprechen, aber schnell geht es um viel mehr – um nichts weniger, als die Bedeutung des Theaters in unserer Gegenwart.

Calle: Gleich zu Beginn: Kannst du unserem Publikum erklären, weshalb wir nicht einfach ins nächste Bücherregal greifen und dich ein Stück von Nestroy inszenieren lassen?

Karen: Meinst du das ernst?

Calle: Ja sicher!

Karen: Also, Nestroy hat wirklich fantastische Stücke geschrieben. Wenn wir uns anschauen, wie die Stücke entstanden sind, dann fällt auf: Was für ein genialer, hochpolitischer Kopf! Er scheint mir ein Mensch gewesen zu sein, der wirklich versucht hat etwas zu verändern und gesellschaftliche Entwicklung mitzugestalten. Da kann ich nur sagen: Respekt! Aber mein Beruf ist ja nicht Literaturwissenschaftlerin, ich mache Theater – im Jahr 2022. Und wenn ich dann so einen Nestroy lese – auch wenn ich ihn einem Schiller immer vorziehen würde – dann frage ich mich: Entspricht das noch unserer Zeit? Greift es brennende Themen auf? Und wenn ja, so, dass ich damit auch wirklich Menschen erreichen kann? Meine Antworten auf diese Fragen geben mir nicht genug Gründe, Nestroy heute im Volkstheater in den Bezirken zu inszenieren.

Calle: Vereinzelt gab es schon den Wunsch nach einem Nestroy. Glaubst du nicht, dass man damit noch Menschen erreichen kann?

Karen: Okay klar, einige Menschen erreicht es natürlich. Aber die Frage ist wen? Du glaubst ja nicht, dass über das Bildungsbürgertum hinaus jemand diesen Namen kennt. Beziehungsweise dafür einen Abend Netflix, Fußball oder was weiß ich auslassen würde, um ins Theater zu gehen. Und das ist der Referenzrahmen, in dem wir uns befinden – wir müssen Theaterabende so gestalten, dass verschiedenste Menschen sagen: Da will ich heute Abend hin!

"Entspricht das noch unserer Zeit? Greift es brennende Themen auf? Und wenn ja, so, dass ich damit auch wirklich Menschen erreichen kann? Meine Antworten auf diese Fragen geben mir nicht genug Gründe, Nestroy heute im Volkstheater in den Bezirken zu inszenieren."

Calle: Und jetzt glauben wir, mit dem österreichischen Gesundheitssystem auf der Bühne können wir das erreichen…

Karen (lacht): Die Antwort ist da etwas komplexer als ein Ja oder Nein. Wenn wir davon ausgehen, dass wir relevante Erzählungen für unsere Zeit finden wollen, dann sollten wir meiner Meinung nach schauen, was läuft gut und was nicht. Da ist das Gesundheitssystem natürlich interessant. Dass es derzeit besonders relevant ist, ist selbsterklärend. Jetzt machen wir aber Theater und schreiben keine Doktorarbeit darüber. Deswegen stellt sich für mich natürlich die Frage danach, wie ich es in 90-120 Minuten schaffe, eine Geschichte zu erzählen, die mich einerseits etwas aufklärt und andererseits meine Empathie für das Thema fördert. In WIEN’S ANATOMY geht es nämlich nicht einfach um das österreichische Gesundheitssystem, sondern es geht um Menschen. Es geht um Menschen, die einfach Pech hatten. Um Menschen, die durch eine Virusinfektion eine so schwere chronische Krankheit bekommen haben, dass sie in keines unserer jetzigen medizinischen Raster passen. Es geht um Menschen, die sich selbst überlassen sind. Es geht um Menschen, für die das Gesundheitssystem keine Antworten parat hat und die deshalb ignoriert werden.

Calle: Hast du dafür ein Beispiel?

Karen: Ich bin im Zuge meiner Recherchen unter anderem auch auf Rosa gestoßen. Rosa ist an ME/CFS erkrankt und besonders schwer betroffen. Sie liegt den ganzen Tag in einem abgedunkelten Raum. Sie trägt dazu noch eine Augenbinde und Kopfhörer, weil sie jede Form eines äußeren Eindrucks zusätzlich belastet. Und sie liegt einfach nur so da – 24/7. Stell dir das mal vor. Ich weiß, das geht nicht, aber versuch’s. Stell dir vor, du liegst einfach nur da, wirst gewendet, gewindelt und gefüttert. Und du bist erst 17. Dein Leben läge dir eigentlich zu Füßen, aber nach Außen scheinst du quasi tot.

Infokasten: Was ist ME/CFS?

ME/CFS ist eine schwere Multisystemerkrankung. Hauptsymptom ist eine allumfassende körperliche sowie geistige Erschöpfung und Schwäche, die durch Ruhe nicht verbessert wird. Betroffene werden nicht nur durch die Erkrankung selbst, sondern auch durch die Unwissenheit und der damit einhergehenden Stigmatisierung balastet.

Quelle: cfs-hilfe.at

Calle: Was liegt dir daran, Rosas Geschichte in den Bezirken zu erzählen?

Karen: Rosas Geschichte steht stellvertretend für so viele. In Österreich sind schätzungsweise 75.000 Menschen chronisch krank, davon allein ca. 35.000 an ME/CFS. All diese Menschen sind zudem nicht alleine. Sie haben Eltern, Geschwister, Freundinnen und Freunde, Pflegepersonal, Ärzt*innen. Wenn du diese direkt und indirekt Betroffenen zusammenrechnest, sind das Hunderttausende! Und deren Geschichten werden nicht erzählt, sie sind unsichtbar. Das möchte ich ändern.

Calle: In den Abenden, die ich von dir gesehen habe, ging es um Obdachlosigkeit oder um Aussteiger:innen aus der Neonazi-Szene. Themen, mit denen eine Auseinandersetzumg nicht unbedingt leichtfällt. Trotzdem faszinieren deine Arbeiten viele Menschen. Was glaubst du, woran das liegt?

Karen: Wir können uns doch von dem, was uns umgibt, nicht entkoppeln. Wir sind umgeben von Geschichten. Manche werden sichtbar, andere hingegen verschwinden. Ich möchte Geschichten von den Leuten erzählen, denen sonst niemand zuhört. Das sind eben oft Minderheiten. Und über unseren Umgang mit Minderheiten können wir die Qualität unserer Gesellschaft und unserer Demokratie bemessen. Wir können sagen: Hier läuft etwas nicht gut. Und dann weiter gehen und sagen: Das könnte viel besser sein. Deswegen arbeite ich im Theater. Weil die Bühne mir den Freiraum gibt, Veränderung anzustoßen. Weil wir mit Humor, mit Musik und im Spiel den Boden bestellen können, aus dem Veränderung erwächst.

Calle: Danke, dass du dir vor deiner Probe die Zeit für dieses Gespräch genommen hast. Wir freuen uns sehr auf die Premiere am 30.09. in Brigittenau!